Martin von Tours
- Ein großer Glaubenszeuge, der die Zeitenwende nutzt und seinem Weg treu bleibt
Martin von Tours wird in einer Zeitenwende geboren. Bis zum kaiserlichen Edikt im Jahr 313 durch Konstantin werden die Christen im römischen Reich verfolgt. Kurz danach wird Martin als Sohn eines römischen Soldaten im heutigen Ungarn geboren. Er wird ein wichtiger Akteur dieser Zeitenwende: Das Christentum wird das antike Denken auf den Kopf stellen! Nicht mehr Stärke und Macht werden zum Beispiel das gesellschaftliche Leben und die allgemein gültigen Werte bestimmen, sondern Gerechtigkeit und Schutz des Schwachen.
Sein Name leitet sich ab vom Kriegsgott Mars. Seine Eltern beten Jupiter, Mars und Minerva an. Doch Martin interessiert sich für den christlichen Glauben.
Als 15-Jähriger wird er verpflichtet, Soldat zu werden. Seine Statur muss beeindruckend gewesen sein, denn er kommt zur kaiserlichen Garde. Jeder dieser Reitersoldaten verfügt über ein eigenes Pferd und einen Leibsklaven. Hier beginnt sein Sonderweg: Er behandelt seinen Slaven wie einen Bruder, oft vertauscht er die Rollen.
Die berühmte Szene von Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt, soll sich im Winter bei eisiger Kälte am Stadttor der französischen Stadt Amiens zugetragen haben. Sulpicius Severus berichtet, Martin habe dort als Soldat einen spärlich bekleideten Armen angetroffen und mit dem Schwert seinen Mantel geteilt, um die eine Hälfte dem Bettler zu geben. In der folgenden Nacht erschien ihm laut diesem Bericht Christus mit jenem Mantelstück, das er dem Armen geschenkt hatte. Christus sagte zu den Engeln, die ihn umgaben: „Martin, obwohl erst ein Taufbewerber, hat mich mit diesem Mantel bekleidet“.
Eine Begegnung mit Kaiser Julian will Martin später nutzen, um seine Entlassung aus der Armee zu erwirken. Er sagt dem Kaiser, dass er als Christ den Kriegsdienst nicht mehr ausüben möchte. Das lässt der Herrscher nicht gelten; er meint, der Soldat wolle sich vor einer bevorstehenden Schlacht aus Feigheit drücken. Martin lässt diesen Eindruck nicht gelten und bietet an, sich am nächsten Morgen ohne Waffen zwischen die feindlichen Linien zu stellen. Der Kaiser lässt sich darauf ein und lässt den vermeindlich Abtrünnigen einsperren. Martin verbringt die Nacht im Gebet und erlebt, dass am nächsten Morgen die aufsässigen Germanen um Frieden bitten. So kann er seinen Militärdienst ehrenhaft verlassen.
Er trifft auf Hilarius von Poitiers, der ihn zum Diakon weihen möchte. Martin, der fortan als Asket und Einsiedler leben will, hält sich weder für würdig noch geeignet und lehnt ab. Aber Martins Pläne zerschlagen sich; er lässt sich schließlich doch auf die Weihe ein. Als er einige Tage abwesend ist, verstirbt ein Taufbewerber. Martin vertieft sich nach der Rückkehr ins Gebet, spürt die Kraft Gottes wirken und wartet mit restlosem Vertrauen stundenlang auf die Genesung des Schutzbefohlenen, der sich schließlich bewegt und die Augen aufschlägt.
Martins Biograf, der angesehene Sulpitius Severus, beschreibt noch viele Situationen, in denen Martin ganz auf Gott vertraut. Er nennt die Fakten, die Bewertung überlässt er den Leserinnen und Lesern.
Nach dem Tod des Bischofs von Tours sträubt sich Martin erneut, ein Amt zu übernehmen, als dessen er sich unwürdig betrachtet. Mit einer List locken ihn die Menschen von Poitiers nach Tours. Dort hat sich bereits eine große Menge versammelt, die ihn umringt und nicht mehr entkommen lässt. Erneut wird Martin wider Willen in eine Aufgabe und Verantwortung hineingezwungen, die er sich nicht ausgesucht hat – ja, die ihm eigentlich widerstrebt.
Die Zeitenwende wird spürbar. Inzwischen haben die Christen – trotz bisheriger grausamer Verfolgung – einen Anteil von 10 Prozent der Bevölkerung erreicht – eine „kritische Masse“. Sie gewinnen jetzt mit der neuen Freiheit auch stärkeren Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Vier Jahre nach Martins Bischofswahl verbietet der römische Senat die Kindstötung. Die Christen stellen die in der antiken Welt der Griechen und Römer herrschenden Maßstäbe infrage und verwandeln das Wertesystem.
Das Christentum hat sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit ausgebreitet. Obwohl er zunächst in Israel und bald darauf im ganzen römischen Reich nahezu 300 Jahre lang verfolgt wird, wächst der christliche Glaube mit einer durchschnittlichen Zunahme von 40 Prozent im Zeitraum von nur zehn Jahren. Dass die frühen Christen sich mutig zu Jesus bekennen und Freiheit und Leben dafür riskieren, macht die Dynamik deutlich, die vom Christentum ausgeht. Von den ursprünglich zwölf Aposteln erleiden mindestens zehn den Märtyrertod. Jesus ist den Aposteln mindestens zehn Mal nach seiner Auferstehung erschienen; der große Skeptiker Thomas darf sogar seine Hände in die Wunden Jesu legen und bekennt voll Staunen: „Mein Herr und mein Gott!“ Aber auch bei den anderen Menschen, die Jesus nicht mehr persönlich erleben, geschieht eine innere Verwandlung. An vielen Stellen ist in den Apostelbriefen davon die Rede. Dieses kraftschöpfende Phänomen hält über Jahrhunderte an. Auch Martin erlebt Jesus als den Auferstandenen, der ihm im Leben nah ist. Es entwickelt sich ein inniges, freundschaftliches Verhältnis.
Martin rechnet immer damit, dass Gott ihm nahe ist, er sucht ständig die Kommunikation mit ihm. Nach der Bischofswahl beginnt er, die heidnischen Landstriche zu durchwandern. Er trifft nicht nur auf Götzendarstellungen, sondern auch auf eine verbreitete Verehrung der Naturkräfte, von Quellen und Bäumen. Oft entstehen bei den Streifzügen herausfordernde Situationen, in denen sich Martin nicht scheut, den Menschen vor Augen zu führen, dass er sich als Christ vor nichts fürchtet, was von den Heiden verehrt wird. So kommt es zu einem Konflikt mit einem Priester der Kybele und um einen Baum, der von den Heiden verehrt wird. Das Volk fordert Martin zu einer Wette auf: „Wenn du tatsächlich auf diesen Gott vertraust, von dem du behauptest, ihn anzubeten, dann fällen wir eigenhändig diesen Baum, aber du musst dich genau dorthin stellen, wo er niederfällt. Und wenn der Gott, der angeblich der deine ist, dir beisteht, wird er dich nicht erschlagen.“ Das anschließende Wunder bringt eine große heidnische Schar zur Bekehrung. So existenziell wie in dieser Situation ist der Glaube bei Martin ständig.
Ein anderes Mal sucht ein Vater, dessen Tochter an einer schrecklichen Lähmung leidet, seine Hilfe. Eine gewaltige Menschenmenge versammelt sich vor dem Haus. Martin lässt sich Öl bringen, das er weiht und dem Mädchen in den Mund gießt. Sie findet ihre Sprache wieder, und allmählich kehrt das Leben in ihren ganzen Körper zurück. Die Heilung ereignet sich in der Kaiserstadt Trier, und Kaiser Maximus, dessen Ehefrau Christin ist, lädt ihn anschließend in seinen Palast ein.
Kein Wunder, dass sich bei derlei Ereignissen der christliche Glaube rasant ausbreitet. Voraussetzung ist aber ein Mensch, der in jedem Augenblick und mit jeder Faser seines Körpers an die lebendige Gegenwart Gottes glaubt und fest mit dessen liebevollem Eingreifen rechnet. – Ein Glaube, der uns heute fremd geworden ist, zumindest in den hiesigen Breitengraden.
Mantelteilung: Symbol für einen historischen Wendepunkt
Die Mantelteilung symbolisiert einen historischen Wendepunkt: Das antike (sozialdarwinistische) Denken steht bisher unter dem „Recht des Stärkeren“, wonach nur der Starke und Mächtige Erfolg hat und sich durchsetzt. Diese Vorstellung wird nun Schritt für Schritt vom christlichen Menschenbild ersetzt, das auf Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit und Achtung der Schwachen und Schutzlosen setzt.
Es ist vorbei mit Göttern, die Ehebruch, Mord und Diebstahl begehen. Jetzt setzt sich ein Gottesbild durch, das eine menschenwürdige Ordnung ins Herz legt. Der neue König Jesus gründet seine Macht nicht auf Intrigen oder Ermordung seiner möglichen Konkurrenten, sondern auf Hingabe, auf eigenes Leiden, Tod und Auferstehung. Seine Jünger lassen sich selbst verwandeln und in ihrem Tun und Denken erneuern. Diese Verwandlung erfasst nicht nur einzelne Menschen, sondern Gesellschaft und Staat. Zunächst werden Abtreibung und Kindstötung verboten (Valentinian I. 364-375). Gladiatorenspiele, an denen sich die Menschen jahrhundertelang „ergötzt“ haben, bald danach (Honorius).
Allmählich bricht das ganze Moral- und Wertesystem Roms mit seiner Vielfalt an Ausschweifungen zusammen. Die heidnischen Götter, die keine Moral beanspruchten, verschwinden.
Der Kindesmord war in der der Antike so verbreitet, dass der Geschichtsschreiber Polybius (um 200 v. Chr.) den Bevölkerungsrückgang im antiken Griechenland damit begründete. Eine Inschrift in Delphi erwähnt, dass es unter 600 Familien nur zwei gab, die mehr als eine Tochter großzogen. Wie wenig ein Menschenleben in der Antike wert war, belegt auch die Praxis des Aussetzens von Neugeborenen. Die Sage um die Gründer Roms, Romulus und Remus, handelt nicht zufällig von der Praxis, unerwünschte Kinder auszusetzen.
Selbst antike Philosophen wie Plato und Aristoteles sprachen sich für Abtreibungen als Mittel der Geburtenkontrolle aus. Die Römer folgten im Wesentlichen der Praxis der Griechen. Ausnahmen bildeten Cicero und Ovid. Freude an Folter, Grausamkeiten und Morde ist dagegen von vielen römischen Kaisern überliefert.
Auch unter schwersten Verfolgungen traten dagegen die Christen zeitgeistwidrig für die Heiligkeit des menschlichen Lebens ein: Jeder Mensch ist unendlich kostbar als Geschöpf und Ebenbild Gottes. Nachdem sich bereits prominente Theologen und Kirchenlehrer in den ersten Jahrhunderten gegen Abtreibungen gewandt hatten, verurteilten ab 306 mehrere Synoden und Konzilien eine derartige Praxis.
Die Christen veränderten auch die Beziehung zum eigenen Körper. Während in der Antike das Ausleben der sexuellen Triebe an der Tagesordnung war, traten die Christen dafür ein, die eigene Sexualität zu beherrschen. Damit machte sich die frühe Kirche nicht nur Freunde: Die Verfolgungen der ersten Jahrhunderte werden auch dem Umstand zugeschrieben, dass sich die frühen Christen gegen die gängigen Vorstellungen der wortführenden Mehrheitsgesellschaft wandten.
Mit der Mantelteilung des Heiligen Martin war ein historischer Kipp-Punkt erreicht: Die Nächstenliebe triumphierte nun über das Recht des Stärkeren und das vorrangige Streben nach dem eigenen Vorteil. Martin hatte den Mut, sich gegen zeitgenössische Vorstellungen für die Würde jedes Menschen als Geschöpf und Abbild Gottes einzutreten. Als einer der ersten Kommunitätsgründer und als Bischof praktizierte er diese Haltung mit großem öffentlichen Einfluss. Dass sein Name heute in Frankreich an der Spitze der Beliebtheit steht und in Deutschland eine verbreitete Verehrung praktiziert wird, zeigt, dass viele Menschen die Mantelteilung als eine Handlung verstehen, die bis heute große Symbolkraft besitzt.